Taiyang-c

Das Erbe von Taiyang-c

 Die Geschichte von Taiyang-c endet mit dem Einschlag des Asteroiden X35 und der vollständigen Zerstörung nicht nur allen Lebens, sondern auch der planetarischen Identität. Dies sind die Protokolle der letzten Aktivitäten. Alle Raumzeitangaben in den Transkripten nehmen Bezug auf das Ereignis Null: den Einschlag. Die wesentlichen Geschehnisse nach der Ent­deckung des Asteroiden bis zum ersten Treffen des wissenschaftlichen Rats umspannen einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren und werden in diesem Kapitel nur kurz dargestellt. Den weitaus größten Raum nehmen die Transkripte der Sitzungen ein. Die letzte Sitzung endet mit dem Ereignis null.

 Die Geschichte bis zum Beginn der Sitzungen

 Die Entdeckung eines neuen Asteroiden war in keiner Weise etwas Beson­deres. Außergewöhnlich waren die Geschwindigkeit des Objekts, seine Größe und vor allem die Tatsache, dass es so lange unbeobachtet geblieben war. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Observatorien auf Taiyang-c die Möglichkeit eines Kollisionskurses in Betracht gezogen hatten. Das Objekt hatte 1/20 der Größe von Taiyang-c, war rund, ließ auf der Oberfläche keine Struktur erkennen und näherte sich mit drei Prozent der Geschwindigkeit des Lichts.

Die Kontaktstelle für extraplanetare Intelligenz richtete ihre Kommunika­tionssysteme sofort auf das Objekt, konnte aber keinerlei Reaktion empfan­gen. Nachdem eine Kontaktaufnahme nicht möglich war und es auch keine Hinweise auf ein objekteigenes Antriebssystem gab, wurde ein Krisenstab gebildet, mit dem Auftrag, ein Konzept für eine aktive Abwehr zu entwickeln. Es stellte sich schnell heraus, dass eine Ablenkung mit den lokal verfügbaren Energiereserven nicht möglich war. Daraufhin wurden alle weiteren Anstren­gungen auf die Zerstörung des Objekts fokussiert. Die Vorbereitung der Mission dauerte fast zwei Jahre. Der Startzeitpunkt wurde so berechnet, dass die Brisanz der Ladung und die Entfernung bei der Explosion eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit ergab, dass die Bruchstücke Taiyang-c verfehlen würden. 80 Prozent aller verfügbaren Energiereserven wurden dafür im optimalen Verhältnis auf Antrieb und Sprengkopf aufgeteilt. Unter der Annahme, dass der innere Aufbau des Asteroiden dem von Taiyang-c ähneln würde, errechnete sich eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 20 Prozent. Alle weiteren Konzepte zum Schutz von Taiyang-c hätten eine längere Vorbe­rei­tungszeit erfordert oder zu einer kleineren Erfolgswahrscheinlichkeit geführt.

Unter höchster Geheimhaltung wurde ein planetares Expertengremium einberufen, um Vorschläge für eine Evakuierung zu erarbeiten. Andere für eine Besiedlung geeignete Planeten waren weit entfernt. Eine Arche hätte viele Generationen unserer Lebensform beherbergen müssen. In einem derart isolierten Mikrokosmos mit ihrer begrenzten Population war nicht sichergestellt, dass die Selbstheilungsmechanismen der von uns erkannten richtigen Ethik funktionieren würden. Das Gremium erkannte die Gefahr einer Selbstzerstörung. Nur wenn ein System groß genug ist und die kritische Selbstheilungsschwelle überschreitet, kann es Abweichungen früh genug korrigieren, bevor unvermeidbare Oszillationen ein selbstzerstörerisches Ausmaß erreichen. Eine in der uns gegebenen, begrenzten Zeit realisierbare Arche wäre zu klein gewesen. Jedes mit den Mitteln von Taiyang-c realisier­bare Evakuierungsprojekt hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit zum Aussterben unserer Lebensform geführt.

Also wurde beschlossen, alle verfügbaren intellektuellen Ressourcen in eine Evakuierung von Taiyang-c zu investieren, die unabhängig von unserer Lebensform existieren können würde. Wie jede Information wäre sie zwar massegebunden gewesen, hätte aber viel effizienter als unsere evolutiv ent­stan­dene Lebensform das wesentliche Wissen codieren können. Die Eva­kuierung des Wissens hätte nur flexibel genug ausgelegt werden müssen, um sich auch in anderen Lebensformen entfalten zu können.

Ein wissenschaftlicher Rat konstituierte sich, um das Wissen und die Erkenntnisse von Taiyang-c ganzheitlich zu erfassen und für eine Auslagerung vorzubereiten. Er erkannte, dass alle Wissensgebiete mit drei Themen abgedeckt werden konnten: strukturelle Möglichkeit, Realität und Bewusst­sein. Unser biologisches Leben hatte dafür bereits die Begriffe Mathematik, Physik und Philosophie geprägt. Jedes andere Gebiet der Wissenschaft ließ sich als Spezialfall und somit als Teildisziplin daraus entwickeln. Eine vierte Disziplin widmete sich der Erfahrbarkeit von Erkenntnis und wurde als Kunst betitelt.

Es folgen die Protokolle der Sitzungen.

 Erste Sitzung: Konstituierung des wissenschaftlichen Rats

 „Seid willkommen, liebe Freunde! Ich brauche keine großen einleitenden Worte zu sprechen – ihr alle wisst um die Gründe, die uns hier zusammen­führen haben. Ein jeder von euch wurde als Repräsentant für einen der Pfeiler unserer Erkenntnis ausgewählt. Ihr wisst, dass ihr die Besten eures Faches seid. Es geht um nichts Geringeres, als darum, euer Wissen zu erfassen, zu kodieren und auf die Reise zu schicken, damit es sich an anderer Stelle entfalten kann. Ich bin sicher, dass jeder von euch bereits von den anderen gehört hat, und dennoch sind wir bis heute noch nie in einer gemeinsamen Runde zusammengekommen. Bevor wir zu den Fachthemen kommen, möchte ich jeden von euch einladen, sich vorzustellen. Haltet euch kurz. Ich selbst will den Anfang machen.“

 Bernd Klarhard im Thale, genannt Bernhard

 „Mein registrierter Name ist Bernd Klarhard im Thale, doch nennt mich einfach Bernhard. Es würde mich nicht wundern, wenn ihr noch nie von mir gehört habt, denn ich bin kein Experte von irgendeinem der Pfeiler unserer Erkennt­nis. Der Grund meiner Anwesenheit hier ist ein anderer: Wir müssen vor dem Zeitpunkt null fertig sein! Meine Aufgabe liegt darin, euch zu helfen, bis dahin ein Paket zu schnüren und auf die Reise zu schicken. Es wird keine Verlän­gerung und keine Nachbesserungsmöglichkeit geben. Meine Qualifikation liegt darin, einen Auftrag bis zur erfolgreichen Ausführung voranzutreiben. In meinen bisherigen Projekten habe ich mich um den Bau von Städten und Schiffen gekümmert. Einige dieser Städte lagen so weit entfernt von allen anderen Siedlungen, dass die Gründungspioniere Aufbau und Unterhalt nur in völliger Autarkie erreichen konnten. Sie mussten beim Start in ihre neue Zukunft alles Erforderliche an Material und Wissen mit sich führen. Bei manchen meiner Schiffsprojekte war es ähnlich. Eine der Reisen führte weit aus unserem Sonnensystem hinaus, ohne ein anderes zu berühren. Das Schiff musste wie eine Stadt gebaut werden und darüber hinaus alle benötigte Materie und Energie mit sich führen.

Bei meinen Projekten konnte ich mich immer auf exzellente Mitarbeiter verlassen. Keinem einzigen war ich in seinem Wissen gewachsen. Demütig fand ich meine Aufgabe an anderer Stelle: als Motivator und Unterstützer. Wenn es gelang, die Glut des Wollens anzufachen und die Flammen der Leidenschaft zu entfesseln, erreichten wir mehr, als jeder andere zuvor.

Nun soll es mir zum letzten Mal gelingen.

Pi, willst du weitermachen?“

 Ivaro Perelman, genannt Pi

 „Ich heiße Ivaro Perelman, doch nennt mich einfach Pi. Ich bin in der Welt der logischen Strukturen zu Hause. Diese Welt ist weitaus umfangreicher, als die Welt in der wir leben. Um es genau zu sagen, ist meine Welt unendlich. Dort gibt es grenzenlose Freiheit. Die besten unter uns sind Entdecker und Eroberer, sie finden überraschende Zusammenhänge und neue Strukturen, beantworten uralte Fragen, indem sie die Lösung dazu aus einfachen Prinzipien ableiten. Ein kleiner Teil dieser Prinzipien und Strukturen ist nützlich, um unsere Welt der materiellen Dinge zu messen, zu steuern und zu regeln. Manche der Prinzipien und Strukturen wurden überhaupt nur gefunden, weil man das Wirken der materiellen Dinge genauer vorhersagen wollte und große Mühen aufwandte, um die dafür geeigneten Denktechniken zu verbessern. So diente das allgemeine Interesse an einem besseren Verständnis unserer materiellen Welt der Fortentwicklung der Mathematik. Es ging aber auch andersherum. Mit zunehmender Datenmenge über das Wirken unserer materiellen Welt wuchs die Erkenntnis, dass manches nicht zusammenpasste, und als man nach neuen Erklärungen suchte, hatte die Mathematik bereits eine zu den Daten passende Struktur bereit. Das Herz der Mathematik sind die Zahlen, ihre Grundlage und Basis und auch die Struktur. Alles, was wir in der Mathematik wissen, lässt sich auf das Wesen der Zahlen zurückführen. Alles, was wir an Aussagen ableiten, lässt sich in Zahlen ausdrücken und in Zahlen beweisen. Es hat sich aber gezeigt, dass die Erklärungen und Aussagen in Zahlen zu lang sind, um darin deren Logik und Schönheit erkennen zu können, daher hat die Mathe­matik eine eigene Sprache mit eigenen Symbolen entwickelt, die es gestattet, auch komplexe Zusammenhänge auf wenig Platz auszudrücken. Leider gibt es nur wenige wirkliche Kenner dieser mathematischen Sprache und Symbole. In dieser Runde will ich daher versuchen, die anstehenden Aufgaben in normalen Worten zu erklären, und hoffe, dass es mir gelingt.“

 Bernhard (lächelt): „Vielen Dank, Pi. Ich hatte gehofft, dass du uns auch ohne fremde Sprachen und Symbole einen Eindruck von deiner Wissenschaft geben kannst. Du hast mich nicht enttäuscht. Magst du uns noch deine Einschätzung mitteilen, welche Rolle deine Wissenschaft in unserer Runde spielen wird? Welches Ergebnis willst du erzielen?“

 Pi: „Meine Rolle ist zunächst ganz einfach: Wann immer in unserer Runde Zahlen eine Rolle spielen, werde ich mich herausgefordert fühlen, diese zu berechnen oder zu erklären. Da wir jedoch die Aufgabe haben, die wesent­lichen Erkenntnisse über unsere Welt zusammenzufassen, führt meine Auf­gabe weiter. Ich muss erklären, welche Bedeutung die Zahlen, die formalen Strukturen und die Logik für unsere Welt haben. Und mein Ziel ist kein geringeres, als eine euch alle überzeugende Erklärung dafür zu liefern, dass meine Wissenschaft nicht nur die Grundlage aller anderen Wissen­schaften ist, sondern auch die unserer gesamten materiellen und spirituellen Welt.“

Ein Raunen geht durch die Runde. Einen Moment sieht es so aus, als würde die Diskussion schon jetzt beginnen.

Bernhard ergreift noch einmal das Wort: „Wir wollen deine Worte erst einmal so stehen lassen, lieber Pi. Vielen Dank noch mal. Adriana, magst du weitermachen?“

 P. Adriana Marac, genannt Adriana

 „Mein Name ist P. Adriana Marac, wobei die Herkunft des Ps unklar ist. Manche meinen, es sei der mir mitgegebene Name meines Großvaters Paul, dann stünde er bei mir für Paula. Andere meinen, dass P stünde für Physik – auch dagegen hätte ich nichts einzuwenden, ist doch die Physik ein wesentlicher Teil meiner Wissenschaft. In dieser Runde vertrete ich das Materielle und schließe dabei ausdrücklich uns alle, die wir hier sitzen, mit ein.“

Wieder geht ein Raunen durch die Runde. Bernhard schaut auf, greift aber nicht ein. Niemand spricht. Bernhard nickt und bedeutet Adriana, fortzufahren.

„Welche Arten von Materie gibt es? Welche kleinsten elementaren Bestandteile haben wir erkannt? Wie verhalten Sie sich zueinander? Wie gruppieren sich die elementaren Teile zu größeren Einheiten? Welche Gesetze gelten für die Bildung dieser Gruppierungen? Wie bewegen sich die Teile, wie bewegen sich die Gruppierungen, welche Systeme können entstehen? Für jede dieser Fragen und viele andere haben wir Modelle und Theorien entwickelt. Dabei benutzen wir, wie Pi bereits ausgeführt hat, die Methoden der Mathematik. Ich gehe davon aus, dass mir jeder in dieser Runde zu­stimmen wird, dass auch sein eigener Körper aus Teilen, Gruppierungen und Systemen besteht, die jeweils den Gesetzen meiner Wissenschaft genügen. Somit ist auch meine Rede an euch, die ich gerade halte, ein Ausdruck dieser Gesetze. Alle Bewegungen meines Körpers, alle Gedanken und Ideen basieren letztlich auf einem Zusammenwirken der physikalischen Gesetze.“

Adriana wendet sich zu Pi.

„Das gilt auch für deine Rede von eben, Pi. Alles, was du gesagt und dabei gedacht hast, basiert auf den physikalischen Gesetzen. Und ebenso das, was alle anderen Denker deiner Wissenschaft vor dir gedacht, gesagt und geschrie­ben haben. Alles Ergebnisse physikalischer Prozesse. Und damit, Bernhard, bin ich so weit, dir meine Rolle zu nennen.“

Adriana blickt auf, niemand möchte etwas dazu sagen. Bernhard nickt wohlwollend.

Bernhard: „Sehr interessant, Adriana, mach weiter. Wie siehst du deine Rolle? Und auch du: Welches Ziel hast du dir gesetzt?“

Adriana: „Zunächst werde ich dafür sorgen, dass in unserem Projekt alles funk­tioniert. Ich meine die Technik, die Geräte, die Maschinen, unsere Re­chen­systeme und so weiter – alles, was für das Gelingen einer erfolgreichen Evakuierung erforderlich ist. Für das Funktionieren unseres Teams bist wohl eher du zuständig, nicht?“

Adriana lächelt Bernhard zu, der lehnt sich zurück. Er scheint nach einer Antwort zu suchen, sagt aber nichts.

Adriana spricht weiter: „Meine wesentliche Rolle sehe ich darin, beim Zusammentragen der Erkenntnis über unsere Welt die besondere Rolle der Physik zu erläutern. Die wesentlichen Zusammenhänge, Gesetze und Strukturen, ganz ähnlich wie auch Pi schon ausgeführt hat – nur mit dem Unterschied, dass bei meiner Wissenschaft der Ursprung liegt. Ich will erklären, wie auf Grundlage der physikalischen Gesetze und Strukturen unsere Materie entstanden ist, letztlich wir selbst und damit unser Denken. Und dieses Denken hat sich dann die Freiheit genommen, sich weitere Strukturen auszudenken, die möglicherweise in unserer Welt nicht einmal zur Anwendung kommen. So möchte ich auch die Entstehung der Mathematik erklären.“

Pi hebt seit einer Weile die Hand. Doch zunächst ergreift wieder Bernhard das Wort: „Ich danke dir für deine klare Rede, Adriana. Du sollst uns allen Vorbild sein: Ein jeder soll seine Sicht der Dinge freiheraus sagen, auch wenn sie einer anderen Rede widerspricht oder zumindest zu widersprechen scheint.“ Bernhard lächelt und fährt fort: „Wir werden sehen.“ Dann wendet er sich zur anderen Seite. „Jogama, willst du weitermachen?“

 Joss Gautema, genannt Jogama

 „Unbeschreiblich groß ist meine Dankbarkeit, Teil dieser illustren Runde zu sein. Meine Kenntnisse der Mathematik und der Physik sind leider nur gering, daher freue ich mich außerordentlich, mit euch, Pi und Adriana, den beiden führenden Vertretern dieser Wissenschaften, zusammen zu sein. Ungekanntes Wissen und verborgene Erkenntnisse werden sich mir durch eure Rede offen­baren. Bereits eure Vorstellung hat mich mehr als neugierig gemacht. Die Welt der Mathematik, Pi, deine Welt, mit ihren unendlichen Strukturen und dem kleinen Teil darin, der sich in unserer Welt niederschlägt – wer trifft die Aus­wahl dieses Teils? Ist es immer derselbe Teil, oder ändert er sich gar, wächst? Wird es einen Zeitpunkt geben, zu dem unsere Welt die gesamte Mathematik umfasst? Und wenn die Mathematik unendlich ist, wie du sagst, Pi, wird dann auch unsere Welt unendlich sein? Ist sie womöglich jetzt schon unendlich?

Auch deine Rede, Adriana, hat mich beeindruckt; über die Materie und die Gesetze, nach denen sie entstanden ist, und über die Bewegung der Dinge und die Regeln, nach denen sie sich bewegen. Bei deinen Worten stellt sich für mich vor allem die Frage, woraus die Materie entstanden ist und was es vorher gab? Und auch die von dir erwähnten Regeln der Bewegung faszinieren mich. Ich nehme an, sie erklären auch, dass ich jetzt hier stehe und rede. Wissen diese Regeln bereits, was ich gleich zu euch sagen werde? Und wenn ja, warum bin ich dann überhaupt hier? Warum seid ihr überhaupt hier? Mit welcher Regel, mit welchem Gesetz wollt ihr die Freiheit erklären? Kaum sagt ihr eine Formel, ist sie schon falsch. Die Freiheit wäre zwar erklärt, doch nicht mehr frei. Meine innere Stimme sagt mir, dass eure Gesetze, Strukturen und Regeln wichtig sind, aber nicht ausreichen, um alle wesentlichen Erkenntnisse unseres Kosmos abzubilden. Ich will sie aber gerne von euch lernen und verstehen, will dabei helfen, sie einzuordnen und ihnen den richtigen Platz in dem Gebäude der Erkenntnis unseres Kosmos zu geben.“

Schon während Jogamas Rede ist die Runde nachdenklich geworden. Diesmal hebt niemand die Hand, nur Bernhard räuspert sich, schaut auf und legte den Stift zur Seite, mit dem er sich Notizen gemacht hat. „Welches Ziel hast du dir gesetzt, Jogama?“

„Für mich ist dieses Projekt eine Chance, selbst die letztgültige Wahrheit zu erkennen. Mein Ziel ist es, den letzten und höchsten Stand der Erkenntnis zu erreichen. Mit eurer Hilfe mag es gelingen, ihn so zu beschreiben, dass auch andere den Weg zu ihm finden werden. Mein Beitrag zum Erfolg dieses Projekts könnte darin liegen, dass der Weg, den ich dabei gehe, für andere verstehbar wird und sie ihm folgen können.“

 Noch während Jogama redete, hat Bastian angefangen, einige Striche auf seinem Block zu zeichnen. Er hört weiterhin aufmerksam zu, ändert gelegentlich noch etwas an seiner Skizze und legt sie schließlich zur Seite. Als Jogama geendet hat, erhebt sich Bastian, nimmt seinen Block, schaut noch einmal kurz darauf und hält ihn dann in die Höhe, sodass jeder der Anwesenden einen Blick darauf werfen kann.

Leon S. Bast, genannt Bastian

 „Nennt mich einfach bei meinem Kurznamen, Bastian. Drei Vorredner, drei Meinungen. Soll ich euch eine vierte geben? Eher nicht. Ich bin nicht hier, um eurem Wissen weitere Erkenntnisse hinzuzufügen, sondern ich bin hier als Vertreter der Kunst. Wir versuchen, das Wahre in seiner Schönheit zu erfassen und in eine erfahrbare Ästhetik zu transformieren. Unsere Produkte sind das Echo der Wirklichkeit. Die Reflexe der Welt im Auge eines Malers. Die Projektion eines Gedankens in das Herz des Lesers. Der erhabene Künstler erahnt das Wahre und schafft in seinem Genie ein Bild mit einer Tiefe, die er selbst nicht sieht. Nur ein Teil der Geschichte steht auf Papier, das Eigentliche entsteht im Kopf des Betrachters. Die Kunst kennt viele Handwerke und noch mehr Wege zur Erkenntnis. Meine Aufgabe wird es sein, das Wissen von Taiyang-c als Kunstwerk abzubilden. Die Darstellungen sollen auch für fremde Lebensformen erfahrbar sein. Ich werde die Entwicklung der Kunst auf unserem Planeten zum Ausgangspunkt nehmen und mich auf ihre Prinzipien, Verfahren und Methoden stützen. Wir empfinden Kunst deshalb als schön, weil sie in engem Bezug zur Wahrheit steht. Ich gehe davon aus, dass die gleiche Wahrheit auch für andere Lebensformen gilt. Dann werden auch sie unsere Kunst als schön empfinden und Wahrheit darin erkennen. Ich muss es nur schaffen, unsere Kunstbeispiele so zu kodieren, dass sie sich in anderen Welten entfalten können.“ Bastian legt den Block auf den Tisch und wendet sich zu Adriana. „Dieses Bild hier ist nur meine Sicht auf die Ausführungen meiner drei Vorredner in einer Form, die euch geläufig ist. Du, Adriana, müsstest mein Werk so flexibel kodieren, dass es auch in einer fremden Welt erscheinen und verstanden werden kann.

Wenn wir in unseren künftigen Sitzungen das Wissen von Tai­yang-c erfassen, brauchen wir dazu passende Kunstwerke. Ich sehe meine Aufgabe darin, die besten Objekte zu finden und euch vorzuschlagen. Eine weitere Aufgabe wird für mich darin liegen, die Ergebnisse unserer Sitzungen, also das gesamte Wissen von Taiyang-c, als ein intuitiv erfahrbares Objekt zu gestalten. Die Protokolle unserer Sitzungen müssen selbst ein Kunstwerk werden.“ Bastian zögert, kratzt sich am Kopf, schaut noch einmal auf seine Skizze und fährt fort: „Nun gut, wir stehen unter Zeitdruck. Ich will mein Bestes versuchen. Was auch immer wir hier zustande bringen, mag am Ende noch keine Kunst sein – vielleicht aber ist es gut genug, um einen Schattenwurf von der Wirklichkeit zu vermitteln, die wir für richtig halten.“

Die Runde hört aufmerksam zu. Alle schauen zu Bernhard. Der steht auf und blickt auf die Uhr. „Nun ist es doch länger geworden, als ich erwartet hatte. Ich denke aber, die Zeit hat sich gelohnt. Wir haben einen ersten Eindruck voneinander, und ich habe mir bereits ein paar interessante Punkte für später notiert. Ich schlage vor, eine kurze Pause zu machen. In fünf Minuten geht es dann mit dem ersten Fachthema weiter.“