Anja

Am Nebentisch saß eine gemischte Runde aus Midlife-Crisis und gelifteten Frauen – die Männer redeten wichtig und die Frauen lachten laut. Eines der Paare hatte bereits gezahlt und war bereit zum Aufbruch. Der Mann beendete im Gehen noch seinen letzten Witz und schaute dabei zurück zum Tisch, um den Beifall nicht zu verpassen, als die Bedienung mit ihren Getränken hinter ihm vorbeiging. Im Rückwärtsgehen riss er mit seinem Hintern das Tablett zu Boden, wobei die beiden Gläser, die eigentlich für Klaus und Ben gedacht waren, mit lautem Klirren zerbarsten und das Bier an die Hosenbeine des Spaßvogels spritzte.

„Pass doch auf, du blödes Huhn!“, rotzte er der jungen Frau entgegen und schaute verärgert an sich herunter.

„Ärger dich nicht, Schatzi“, flötete seine Begleitung. „Das Mädel ist jung und wird es auch noch lernen.“ Dann schmiegte sie ihre engen Latexjeans an sein bespritztes Hosenbein, hakte ihn unter und stöckelte mit einem garantiert trainierten Hüftschwung dem Ausgang entgegen.

„Oh, es tut mir leid“, sagte die junge Bedienung etwas zu leise. „Ich hole sofort einen Besen und neue Getränke“.

Klaus beobachtete, wie sie mit ihrem Fuß die Scherben zusammenschob und dabei ihre Brille zurechtrückte. Sie war ihm bei der Bestellung nicht weiter aufgefallen, hatte eine weite dunkle Latzhose an und war kein heißer Feger, sondern eines der ruhigeren Mädchen, die man erst auf den zweiten Blick sympathisch fand. Aber jetzt bemerkte er ihr hübsches Gesicht, in das die große Brille überhaupt nicht passte. Sie war wirklich noch jung und möglicherweise von der Situation überfordert. Inzwischen war sie draußen, vermutlich, um ein Kehrblech zu holen.

„Die jobbt hier nur. Meine Schwester kennt sie aus der Schule – vorletztes Jahr, also Kursstufe K1. Ich glaube, die sind zusammen im Kunstkurs.“

„Ah, okay. Komm, wir räumen schon mal auf“, sagte Klaus, dem das Mädchen leidtat. Er fand es unfair, wie der alte Sack sie zusammengefaltet hatte, obwohl er selbst schuld gewesen war. Mit den Fingerspitzen klaubte Klaus die kaputten Gläser und die dazugehörigen Splitter auf das Tablett, dann stellte er das Ensemble auf den Tisch. Als die Bedienung zurückkam und es sah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

„Oh, vielen Dank!“, sagte sie zu Ben und errötete.

„Er wars“, korrigierte dieser und nickte zu Klaus.

„Das ist ja nett, danke“, sagte sie daraufhin zu Klaus und rückte wieder an der Brille.

Klaus fand sie jetzt noch hübscher als vorher und versuchte, sie sich ohne Brille und in anderer Kleidung vorzustellen. Ein Hosentausch mit der Latexfrau – das wäre einen Versuch wert gewesen. Krampfhaft suchte er nach einer Idee, wie er mit ihr ins Gespräch kommen könnte – vergeblich. Ben ließ ihm ohne­hin keine Lücke.

„Wir sind aber beide nett! Hast du das nicht bemerkt?“

„Einer netter wie der andere, besonders du.“ Sie lachte von Ben zu Klaus und wieder zurück. „Ich hol euch Netten gleich zwei frische Bier – ich räume vorher nur noch schnell das Chaos auf.“ Und schon tauchte sie ab, widmete sich mit ihrem Kehrblech dem Rest der Scherben und schwebte hinaus, um kurz darauf mit zwei vollen Gläsern zu erscheinen. Elegant tänzelte sie zwischen den Tischen hindurch und manövrierte das Tablett an den Gästen vorbei.

„So, Entschuldigung noch mal, jetzt kann es endlich weitergehen.“ Sie stellte die beiden Gläser auf den Tisch und verschwand zurück in Richtung Tresen.

Trotz der weiten Latzhose bemerkte Klaus ihren Hüft­schwung, nur dass ihrer ein Geschenk der Natur und nicht das Ergebnis langjährigen Trainings zu sein schien. Er bereute, nicht schlagfertiger gewesen zu sein und die Chance genutzt zu haben. Hätte er sich bei ihr doch nach dem Aufsammeln der Scherben besser in Szene gesetzt. Aber vielleicht konnte ihm ja Ben etwas noch über sie erzählen und ihm damit helfen, einen Gesprächsanfang zu finden.

„Gehört ja schon ein bisschen Mut dazu, hier als Schülerin zu jobben“, setzte Klaus an.

„Sie bereitet sich vielleicht schon mal auf später vor.“ Ben grinste. „Geld wird sie brauchen … Ich meine, bei ihrem Inte­resse für Kunst. Damit verdienst du ja nichts, außer, du wirst ein wirklich großer Künstler. Und die Chancen dafür sind denkbar schlecht. Die haben in der Schule gerade die Projektaufgabe bekommen, irgendwas zu zeichnen. Meine Schwester rannte die Tage mit einem großen Karton aus dem Haus und saß nach ihrer Rückkehr stundenlang zeichnend am Schreibtisch – und sie ist immer noch nicht fertig. Ich muss sie mal fragen, worum es da eigentlich geht.“

Das war nicht viel. Damit konnte Klaus nichts anfangen.

„Kennt deine Schwester sie gut?“, fragte er.

„Sie kennen sich schon seit einigen Jahren. Ich glaube, sie heißt Anja. Meine Schwester macht den Kunstkurs, weil es da die besten Noten geben soll – Anja hingegen meint es wohl ernst mit der Kunst. Ich glaube, sie will später Kunst­geschichte studieren oder so was; deswegen auch mein Spruch mit dem Geld. Eine Discoqueen ist sie jedenfalls nicht. Meine Schwester hat mich mal auf eine ihrer Stufenpartys mitge­nommen, da hab ich mich damals um die Technik gekümmert – da liefen ’ne Menge Hotties rum, aber Anja war nicht dabei. Warum fragst du?“

Sollte Klaus von seiner Entdeckung des natur­gegebenen Hüftschwungs erzählen, der ihm auch unter der dunklen Latzhose nicht verborgenen geblieben war? Den lächelnden Augen hinter der zu großen Brille und der sympathischen Schüchternheit? Anjas Schlagfertigkeit, die Tiefe erwarten ließ? Nein, entschied er. Besser nicht, sonst würde er Ben am Ende noch auf sie aufmerksam machen.

„Hat sie einen Freund?“, rutschte es ihm stattdessen heraus und am liebsten hätte er sich danach die Zunge abgebissen.

Ben schaute jetzt etwas überrascht.

„Soll ich erst meine Schwester fragen, ob sie noch solo ist, oder würdest du es auch bei Konkurrenz versuchen?“

„Wenn ich ihr Freund wäre, wäre ich nicht begeistert davon, sie hier als Bedienung zu sehen. Die ganzen Macho­typen und die Anmache …“, Klaus zögerte einen Moment. „Und als Schülerin hat dich das Leben doch noch nicht so weit abgehärtet, dass du dich hier behaupten kannst. Jedenfalls nicht, wenn du schüchtern bist.“ Klaus war froh, dem Gespräch diese Wendung gegeben zu haben. Er hatte sich selbst aus der Gefahrenzone gebracht, bewegte sich aber immer noch auf dünnem Eis. Gespräche über Mädchen waren nicht sein Spezialgebiet; ihm fehlte der solide Erfahrungsschatz, auf den die meisten seiner Freunde bereits zurückgreifen konnten, wenn das Gespräch auf Mädchen kam. Was ihm jetzt half, war lediglich sein Wissen, dass auch Ben kein Partylöwe war. Bei Feiern war der immer derjenige, der sich um die Technik kümmerte. Er war ein Nerd, ein Computerfreak, der sich stundenlang in seinen PC vertiefen konnte und die unmöglichsten Sachen dabei herausfand. Die Gespräche mit ihm hatten zwar Tiefe, aber auf technischer Ebene, nicht auf menschlicher – Gespräche mit Ben waren unemotional und einfach. Deswegen verbrachte Klaus so gerne Zeit mit Ben.