Der Wunsch

Josef Kalberla flog gewöhnlich Economy Class, denn er hasste es, für unwichtige Dinge Geld auszugeben. Diesmal aber hatte ihn das Glück in Form eines Upgrades getroffen, und er wusste selbst nicht, warum. Er hatte die Beine ganz ausgestreckt und versank mit den Ellbogen im Polster der Lehnen, die ihm ganz allein gehörten, denn der Platz neben ihm war leergeblieben. Wie immer saß er auch heute am Fenster. Obwohl er Vielflieger und Inhaber eines Accounts mit zwei Millionen Flugmeilen war, ließ er es sich nicht nehmen, einen beträchtlichen Teil der Flugzeit hinaus­zuschauen. Er hatte Freude daran, sich zu den langsam vorbeiziehenden Bildern Fragen auszudenken. Über bewohnten Gebieten prüfte er sich, ob er die Dörfer, die Stadtviertel mit ihren Parks und Alleen, die Industriegebiete und Ausfallstraßen, den Bahnhof und andere markante Gebäude erkannte und seinen Erinnerungen an Gehörtes, Gelesenes oder eigene Besuche zuordnen konnte. Er beobachtete grüne Wiesen und braune Äcker und verfolgte deren Wandel, wie sie zu immer größeren gelben Feldern wuchsen und sich schließlich als riesige braungelbe Trocken­flächen mit eingeworfenen grünen Kreisen bis zum Horizont erstreckten – und versuchte, ein Prinzip in allem zu erkennen. Flüsse, Berge und Seen klappten in seinem Kopf den alten Schulatlas auf und stellten ihm die Aufgabe, die passenden Seiten und richtigen Namen zu finden. Selbst während der stundenlangen Flüge über den Atlantik war er von dessen Größe und Eintönigkeit mehr beeindruckt, als dass er Langeweile empfunden hätte, und schaute immer wieder hinaus, um nicht zu verpassen, wenn sich doch einmal ein winziges Schiff in der unendlichen Wasserwüste zeigte.

Doch heute gab es draußen nichts – kein Land, kein Wasser … noch nicht einmal Himmel oder Wolken. Er sah einfach nur Grau. Josef Kalberla hatte dennoch eine Weile hinausgeschaut, war dessen aber schließlich überdrüssig geworden und richtete sein Augenmerk daraufhin auf das Innere des Flugzeugs. Die Business Class war mäßig gefüllt. Anzugträger, wahrscheinlich Geschäftsreisende. Warum war er eigentlich unterwegs? Es überraschte ihn, dass er diese Frage nicht beantworten konnte, ihn dieser Umstand aber gar nicht beunruhigte. Jetzt fiel ihm ein Steward auf, der eine ganze Weile mit einem der anderen Passagiere geredet hatte und sich Kalberla nun näherte. Überraschenderweise setzte er sich auf den freien Platz neben ihm.

„Dr. Josef Kalberla?“

Der Steward schaute auf eine Liste, musterte ihn dann. Hatte er versehentlich auf den Rufknopf gedrückt? Etwas verloren? Saß er am falschen Platz? Kalberla sagte nichts und ließ erkennen, dass er auf eine Erklärung wartete.

„Wir haben Ihren Wunsch noch nicht aufgenommen“, sagte der Steward.

Kalberla lächelte. Das Essen. Er hatte sich noch nichts ausgesucht.

„Ich habe noch keine Speisekarte bekommen.“

„Wir haben keine Speisekarten. Sie dürfen frei wählen.“

Kalberla war überrascht. Selbst in der Economy Class mit ihren drei Optionen – Chicken, Beef und vegetarisch – gab es Speisekarten. Sollte er einfach eines davon nennen? Nein, das wäre nicht angemessen, schließlich flog er heute Business Class. Da würde es sicher mehr Auswahl geben. Er ärgerte sich über die Nachlässigkeit des Stewards, ihm keine Aufzählung der Menüoptionen gegeben zu haben, wenn es schon keine Speisekarten gab. Während Kalberla noch überlegte, wie er den Steward auf seine Unprofessionalität hinweisen sollte, damit dieser daraus lernte, ihr persönliches Verhältnis aber unbelastet blieb und der Rest des Fluges in respektvoll freundlicher Atmosphäre erfolgen konnte, räusperte sich der Steward kurz und lächelte.

„Sie sind der Letzte. Alle anderen haben schon gewählt. Ihnen stehen alle Optionen zur Verfügung.“

Jetzt hatte Kalberla eine Idee:

„Was haben denn die anderen genommen?“

„Die meisten haben schnell etwas gefunden, bei anderen hat es länger gedauert. Einige konnten sich sehr lange nicht entscheiden, doch letztlich hat jeder seinen Wunsch genannt.“

So kamen sie nicht weiter. Kalberla ließ seinen Blick über die Mitreisenden schweifen und bemerkte schließlich vier Reihen vor sich einen jüngeren Herrn im auffällig bunt karierten Jackett.

„Der junge Mann in dem karierten Jackett da vorne, was hat sich der gewünscht?“

„Der wusste sofort, was er wollte,“ der Steward klang ein bisschen genervt. „Er wollte Geld.“

„Geld?!“, wiederholte Kalberla.

Er war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.

„Ja, Geld. Viele wünschen sich Geld. Und am Ende sind sie enttäuscht.“

„Warum?“, fragte Kalberla.

„Weil es ihnen an ihrem Zielort nichts nutzt.“

„Womit bezahlt man dann an ihrem Zielort?“

Der Steward antwortete nicht.

Wie hieß überhaupt der Zielort? Wo flogen sie überhaupt hin? Wo flog er hin? Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht nur den Grund seiner Reise vergessen hatte, sondern auch sein eigenes Ziel.

„Wie lange werden wir noch brauchen?“, fragte er.

So würde er vielleicht Näheres erfahren, ohne seine Unwissenheit preisgeben zu müssen.

„Sie können sich für Ihren Wunsch so lange Zeit nehmen, wie Sie wollen“, sagte der Steward und lächelte wieder. „Das hier ist für alle Passagiere der letzte Flug. Wir werden ankommen, sobald auch Sie gewählt haben.“

Erst jetzt bemerkte Kalberla, dass alle anderen schliefen – sehr ungewöhnlich, selbst auf einem Langstreckenflug. Und dann bemerkte er die Unsinnigkeit hinter der Aussage des Stewards. Wieso kam der erst jetzt zu ihm und fragte nach seinem Wunsch, wenn das Flugzeug bald danach landen würde?

Der Steward hatte inzwischen gesehen, dass Kalberla noch nicht verstand.

„Wir befinden uns auf unserer letzten Reise. Danach kommt der Tod, das Unbekannte. Viele Menschen sterben plötzlich, andere gleiten aus der erlebten Welt hinaus und nehmen immer weniger wahr. Der Tod nimmt ihnen allen das Heft aus der Hand und lässt den Vorhang fallen. Der Auftritt ist vorbei, und was noch nicht gesagt wurde, kommt nicht mehr zur Aufführung. Doch wir befinden uns auf diesem Flug in einer privilegierten Gruppe. Jeder Reisende hatte einen letzten Wunsch frei, auch ich. Und nun auch Sie.“

Letzte Reise.

Tod.

Das Unbekannte.

Noch ein Wunsch.

Nur!

Ein eisiger Schrecken durchfuhr Josef Kalberla und lähmte jede Bewegung. Er war zunächst unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Worte des Stewarts kreisten in seinem Kopf. Der Tod, ein letzter Wunsch. Doch Kalberlas Reflexe funktionierten noch. „Was haben Sie sich gewünscht?“, fragte er den Steward.

„Mein letzter Wunsch war, dass ich allen Menschen, denen ich begegne, ihren wichtigsten Wunsch erfüllen darf. Ich hatte zu Lebzeiten einen kleinen Kiosk, kam ganz gut mit dem Verkauf von Zeitungen, Zigaretten und Bier über die Runden. Meist waren es Obdachlose und Hartzer, die die sich bei mir ihre kleine Portion Glück gekauft haben, und so manches Mal war jemand dabei, dem sein Geld nicht einmal für diese kleine Portion reichte. Zwei-, dreimal habe ich es bemerkt und ein Bier spendiert – erst spät habe ich erkannt, dass der eigentlich Beschenkte dabei ich selbst war.“ Er lächelte. „Lassen Sie sich Zeit und finden Sie in Ruhe Ihren Wunsch. Wir haben keine Eile“. Der Steward stand auf und verschwand hinter dem Vorhang, der seinen Bereich vom Passagierraum trennte.

Josef Kalberla saß eine ganze Weile regungslos da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann entschloss er sich, aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Das würde sicherlich helfen, seine Erstarrung zu lösen. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt, schlüpfte in die Schuhe und war auch schon im Gang. Die Schritte taten ihm gut, an den hinter ihm liegenden sechs Reihen entlang, in der leeren Bordküche umdrehen, zurück, und schließlich wieder an seinem Platz vorbei und weitere acht Reihen bis zum Ende des Passagierraums. Kalberla war innerlich jetzt viel ruhiger und ließ seinen Blick zurück und über die Mitreisenden schweifen. Zwei Reihen vor ihm war ein älterer Herr aufgewacht und schaute ihn an. Kalberla nickte freundlich und machte drei schnelle Schritte auf ihn zu.

„Ein außergewöhnlicher Flug, nicht wahr? So ruhig, und doch voller Überraschungen. Josef Kalberla, übrigens.“

„Hilbert“, grüßte der ältere Herr.

„Wohin geht Ihre Reise?“, erkundigte sich Kalberla.

„Hat es Ihnen der Steward nicht gesagt? Wir haben alle das gleiche Ziel.“

Also doch – Kalberla hatte schon richtig verstanden. Alle Mitreisenden wussten bereits Bescheid, und er, Josef Kalberla, hatte es als Letzter erfahren. Nun gut, dann konnte er ja direkt zum Kern der Sache kommen.

„Was haben Sie sich gewünscht?“, fragte er den älteren Herrn namens Hilbert.

„Ich wollte wissen, ob es einen Beweis für die Riemann’sche Vermutung gibt.“

Kalberla stutzte. Die Riemann’sche Vermutung? Alle nicht­trivialen Nullstellen der Zetafunktion liegen auf einer Geraden mit dem Realteil ½ – eine Vermutung von Bernhard Riemann aus dem 19. Jahrhundert, aus der Genera­tionen nachfolgender Mathematiker weitreichende Schluss­folge­run­gen zum Aufbau des Zahlensystems ableiteten. Nur, war die Vermu­tung überhaupt richtig? Seines Wissens konnte sie nie bewiesen werden. Schlagartig wurde ihm klar: Es handelte sich um eines der Hilbert’schen Jahrhundertprobleme, die zum Jahreswechsel von 1899 auf 1900 als Programm für die Mathematik formuliert worden waren. Und nun waren sie Reisende im selben Flugzeug. Er, Josef Kalberla, und der berühmte Mathematiker David Hilbert.

„Und, gibt es einen Beweis?“

„Ja.“

„Kann auch ich ihn verstehen?“

„Nein.“

Kalberla war enttäuscht. Er war zwar Physiker, hatte sich aber immer auch für Mathematik interessiert und ging davon aus, zumindest die Idee des Beweises in groben Zügen nachvollziehen zu können. Vielleicht nicht jedes Detail, aber das zugrundeliegende Beweiskonzept.

„Wäre es nicht möglich, dass Sie mir mit Ihren eigenen Worten wenigstens einen ungefähren Eindruck vermitteln, wie die Beweisidee funktioniert?“

Hilbert schüttelte den Kopf.

„Ich habe mir diese Frage selbst schon gestellt“, seufzte er. „Jeder einzelne Schritt war für mich nachvollziehbar, und am Ende habe ich gesehen, dass die Beweiskette geschlossen war. QED – Quod Erat Demonstrandum. Aber ich habe das Prinzip des Beweises nicht durchschaut. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin schließlich zu dem Schluss gekommen, dass ich den Beweis selbst nicht verstanden habe. Es war, als hätte der Steward in einer fremden Sprache zu mir gesprochen. Ich konnte mithilfe meines inneren Wörterbuchs zwar jedes einzelne Wort, jeden Satz in meine mir vertraute Sprache der Mathematik übersetzen, aber die Drama­turgie seines Vortrags hat sich mir nicht erschlossen. Möglicherweise habe ich die falsche Frage gestellt.“

Hilbert schaute jetzt zu Herrn Kalberla, der sich auf die Lehne des Vordersitzes stützte.

„Wie wurde Ihr Wunsch erfüllt?“, fragte Hilbert.

„Ich habe ihn noch nicht geäußert. Der Steward meinte, ich könne mir so viel Zeit lassen, wie ich brauche. Jetzt, nach dem Gespräch mit Ihnen, sehe ich, wie wichtig es ist, seinen Wunsch richtig zu formulieren.“

„Viel Glück“, wünschte Hilbert. „Lassen Sie mich wissen, wie weit Sie kommen. Vielleicht gewinne auch ich noch eine Erkenntnis daraus.“

Kalberla zuckte zusammen – das wäre es, wenn er durch die Erfüllung seines Wunsches dem großen David Hilbert noch eine Erkenntnis mitgeben könnte! Zunächst aber, so beschloss er, wollte er seinen Spaziergang durch die Sitzreihen fortsetzen.

Einige Reihen hinter Hilbert war ein weiterer Herr aufge­wacht und blickte zu Kalberla. Er kam ihm bekannt vor: die wirren Haare, das runde Gesicht und die hohe Stirn mit den markanten Falten. Kalberla würde einen weiteren Versuch starten.

„Josef Kalberla“, stellte er sich vor. „Es scheint, dass auf diesem Flug doch nicht alle Reisenden schlafen und ich noch Gesellschaft finde.“

„Einstein“, antwortete der Mann. „Albert Einstein.“

Sie auf diesem Flug!? Das ist ja unglaublich!“, entfuhr es Kalberla. „Wieso haben Sie Ihr Ziel noch nicht erreicht?“

„Mein Wunsch wurde noch nicht erfüllt“, antwortete Einstein. „Die Reise endet für uns alle erst dann, wenn unsere Wünsche erfüllt wurden.“

„Was haben Sie sich gewünscht?“, fragte Kalberla.

„Die Erklärung der Welt mit einer Formel. Nachdem ich das Prinzip von Raum, Zeit und Gravitation verstanden hatte und die mathe­matischen Zusammenhänge formulieren konnte, verbrachte ich die letzten Jahrzehnte meines Lebens mit der Suche nach der Weltformel. Leider vergebens. Also habe ich nach der Weltformel gefragt.“

„Und wie war die Antwort?“

„Erschütternd. Die Formel war einfach, bestand aber leider aus mir unbekannten Symbolen. Ich bat den Steward, mir die Bedeutung der Symbole zu erklären, doch das führte nur zu weiteren Symbolen und Zeichen, die mir ebenfalls unbekannt waren. Nun habe ich zwar die Formel, weiß aber nichts damit anzufangen.“

„Und wie soll es weitergehen?“, fragte Kalberla.

„Ich warte, bis mir jemand die Formel erklären kann. Übrigens: Wie zufrieden sind Sie mit der Erfüllung Ihres Wunsches?“

„Ich habe mir noch nichts gewünscht. Ich muss mich erst an die Situation hier gewöhnen und hatte gehofft, in Gesprächen eine Anregung zu bekommen.“

„Überlegen Sie gut“, sagte Einstein, „und finden Sie die richtige Frage! Gute Reise.“

Kalberla setzte seinen Spaziergang fort und merkte, wie das Gehen ihn ruhiger werden ließ. Er ging wieder bis ganz nach vorne, kehrte an der verschlossenen Tür zum Cockpit um und ging den ganzen Weg zurück bis zur Bordküche. Bewegungslos stand dort ein Mann, der vorher nicht da gewesen war. Er schaute durch das kleine Fenster in der Tür, das nur einen Blick nach draußen erlaubte, wenn man sich bückte und den Kopf ein wenig neigte. Der Mann aber war fast zwei Köpfe kleiner als Kalberla und konnte aufrecht­stehend hinaussehen. Kalberla folgte seinem Blick in das strukturlose Grau und betrachtete den Mann genauer. Er war in ein weißes, arabisches Gewand gekleidet und trug einen Turban, der seinen Kopf mit elegantem Schwung umfasste. Der Mann wirkte in keiner Weise gelangweilt, eher konzentriert und in Gedanken versunken, und er strahlte eine tiefe innere Ruhe aus. War er ein gelehrter Muslim? Kalberla wusste nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Dann versuchte er es einfach.

„Salem Alaikum“

Der Mann drehte sich langsam um und schien dabei keineswegs überrascht, eher erfreut.

وعليكم السلام

Er lächelte, verbeugte sich leicht, und fügte hinzu: „Sei Friede auch mit dir!“

Kalberla war überrascht; die Antwort kam ohne jeden Akzent.

„Josef Kalberla“.

أبو جعفر محمد بن موسى الخوارزمي

Kalberla war über die Länge des Namens und seinen Wohlklang überrascht, oder hatte der Gelehrte schon mehr von sich verraten? Kalberla versuchte es mit Deutsch, notfalls könnte er immer noch ins Englische wechseln.

„Haben Sie eine angenehme Reise?“ Vermutlich war es angemessen, langsam in das Gespräch, einzusteigen, mit einem Smalltalk.

„Ich kann nicht klagen.“

Perfektes Deutsch!

„Wie lange, glauben Sie, werden wir noch unterwegs sein?“

Der Mann wiegte den Kopf und überlegte wohl, was er antworten sollte.

„Es ist schwer, die Zukunft zu weissagen.“

Smalltalk war das nicht. Wie weiter?

„Sie wirken sehr nachdenklich!“, sagte Kalberla.

Der Mann lächelte und schwieg.

„Wenn nicht die Zukunft, was ist es dann, das Sie so fesselt?“

„Ich schaue ins Nichts und stelle mir faszinierende Welten vor.“, sagte der Mann.

„Sehr interessant! An welche Länder denken Sie?“

„Zahlen, keine Länder.“

Mit dieser Antwort hatte Kalberla nicht gerechnet. Zahlen. Auch er konnte durchaus mit Zahlen umgehen. Er kannte sich in der höheren Mathematik ganz gut aus, hatte es aber nie geschafft, wirklich in deren geheimnisvolle Tiefen vorzudringen. Zu fremd und zu vielfältig waren die mathematischen Begriffe, Symbole und Strukturen, als dass er es je geschafft hätte, auch nur auf einem kleinen Gebiet an die Grenzen der Erkenntnis vorzudringen, oder gar mit eigenen Ideen zum Fortschritt dieser Wissenschaft beizutragen. Für ihn war Mathematik in erster Linie ein Werkzeug, und er bedauerte das sehr.

„Wie können Sie sich die Vielfalt von Formeln und Sym­bolen mit all ihren Eigenschaften merken?“

„Ich brauche keine Formeln und Symbole.“

Unmöglich! Wie sollte das gehen?

„Wie bewegen Sie sich dann durch die Welt der Zahlen, ganz ohne Formeln und Symbole?“

„Mit einfachen Sätzen. Ich habe herausgefunden, dass sich bestimmte Gruppen von Aufgaben prinzipiell mit derselbe­n Methode lösen lassen. Die Zahlen sind dabei beliebig.“

„Und wie kann man eine Aufgabe mit einer bestimmten Methode lösen, ohne Formeln und Symbole zu verwenden?“

„Ich beschreibe das Vorgehen mit Worten. Schritt für Schritt. Vom Anfang, also der Aufgabenstellung, bis zum Ende, der Lösung. Ich brauchte allerdings Symbole für die Zahlen selbst. Diese erklärte mir ein Reisender, der aus Indien in mein Land kam.“

„Sehr interessant! Wollen Sie mir verraten, wo Sie gelebt haben?“

 بغداد صَاحِب

Es klang wie Bagdad. Wurden dort im frühen Mittelalter nicht die Grundlagen der Algebra entwickelt und in einem Buch niedergeschrieben, von dessen Namen der heutige Begriff Algorithmus abgeleitet worden war? Ein aberwitziger Gedanke schoss durch Kalberlas Kopf, eine unglaubliche Vermutung.

„In welchem Jahr war das?“

„Zweihundert Jahre nach Erscheinen des Propheten, mein Freund.“

Mohammed? Das war doch frühes Mittelalter! Dieser Gelehrte musste um 800 geboren und etwa 50 Jahre später gestorben sein. Und jetzt war er mit ihm, Kalberla, auf diesem Flug ins Jenseits!

„Wie lange sind Sie schon an Bord?“

„Ich reise schon mehr als tausend Jahre und habe Hunderte Reisende kommen und gehen sehen.“

Also stimmte es, der Gelehrte hatte in der Blütezeit des Islam gelebt, dem Zentrum des Wissens, der Mathematik, der Astronomie und der Geografie. Antike Geometrie und indisches Zahlsystem. Die Wiege der europäischen Mathematik. Gedankenblitze zuckten in dunkles Erinnern und beleuchteten die Konturen eines ungeheuerlichen Zusammenhangs. Doch dann stutzte Kalberla. Die meisten Reisenden waren bereits ausgestiegen, er jedoch war geblieben! Inzwischen hatte der Araber weiter­geredet – Kalberla wollte nicht unterbrechen.

„Mohammed wies seinem Volk den Weg ins Paradies. Ich hatte aus der Fremde einen anderen Glauben mitgebracht, war aber von der Lehre des Propheten durchaus beeindruckt. Ich sah eine gemeinsame Grundlage, während sich andere über die Unterschiede ereiferten.“

„Welche Grundlage sahen Sie?“

„Der Glaube an die Kraft des Guten war uns gemeinsam. Gott gab uns Menschen die Fähigkeit, das Gute zu erkennen. Damit kommen wir in die Lage, den Fortschritt zu beflügeln.“

„Und die Unterschiede?“

„Die Ausgestaltung im Konkreten. Ich bemerkte, wie manche der neuen Lehre des Propheten folgten, andere sie veränderten und erweiterten, wieder andere sie für falsch hielten. Die Streitenden verbissen sich in Details, erkannten in den Lehren ihrer Führer unauflösbare Widersprüche und scheuten nicht einmal vor Gewalt zurück, um ihre Sichtweise durchzusetzen. Im Namen des Heils wurden Kriege geführt! Ich wollte nicht glauben, dass Krieg ein richtiger Weg zum Frieden sein kann – lag die Ursache der Problematik streitender Religionen vielleicht im fehlenden Verständnis der anderen Lehre und gar nicht in deren Unvereinbarkeit mit der eigenen? Warum konnte die Mathematik eine gemeinsame Wahrheit erkennen, die Religion aber nicht? Ich war überzeugt, dass die Mathematik immer richtig oder falsch sein muss und Streit darüber sin­nlos.“ Der Gelehrte strich durch seinen Bart und zögerte, ehe er weitersprach. „Aber inzwischen habe ich einen Passagier getroffen, der mich zweifeln ließ. Auch in der Mathematik ist Ungewissheit möglich.“

Kalberla erinnerte sich an das Gespräch mit Hilbert.

„Unbewiesene Sätze?“

„Unbeweisbare Aussagen. Wir haben lange miteinander geredet. Irgendwann stieg er aus, war einfach weg. Sein Wunsch war wohl erfüllt worden.“ Der Gelehrte lächelte listig. „Oder hatte er einen unerfüllbaren Wunsch geäußert?“

 „Wir waren uns zumindest einig, dass die Mathematik nie zu Streit führen würde. Ganz anders hingegen die Religion, um derentwegen auch heute noch Kriege geführt werden, wie mir manche Reisenden erzählen, weit heftiger als zu meiner Lebenszeit.“

„Sie haben sich gewiss gewünscht, dass ewiger Frieden herrschen soll?“, fragte Kalberla.

„Das wäre schön gewesen, aber ich war nicht so vermessen, diesen Wunsch zu äußern.“

„Was haben Sie sich gewünscht?“

„Erkenntnis. Ich wollte wissen, ob es eine allgemein akzeptable Grundlage gibt, an der man wahre und richtige Religion erkennen kann. Solide wie Mathematik.“

Das war es. Die Religion, Gott!

„Und ich wollte über die Sprache verfügen, um diese Grundlage zu beschreiben.“

Ein interessanter Wunsch. Er verlangte keinen Beweis und keine Erklärung, sondern fragte nach einer Grundlage. Und klug: Er wollte die Grundlage mit Worten beschreiben können. Kalberla musste darüber nachdenken. Wie sollte er sich verabschieden? Mit einem Kompliment?

„Sie sprechen ein exzellentes Deutsch!“

„Ach … die vielen Jahre hier. Ich habe so viele Reisende kommen und gehen sehen und alle gefragt, doch keiner wusste eine Antwort. Also habe ich die Zeit genutzt, um die Sprachen der Welt zu studieren. Ich wollte die Worte kennen, die meine Frage irgendwann beantworten werden. Vielleicht werden Sie ja eine Lösung finden.“

Kalberla verbeugte sich tief.

„Reisen Sie in Frieden!“

„Und Friede auch für Sie!“

Der Gelehrte blickte wieder aus dem Fenster und Kalberla wandte sich zum Gehen. Auf dem Rückweg bemerkte er, dass jetzt auch Hilbert und Einstein wieder schliefen, also ging er zurück zu seinem Platz und schnallte sich wieder an.

Er war jetzt ganz entspannt und ließ seine Gedanken schweifen, ohne sie auf ein konkretes Thema zu fokussieren. Angenehme Wärme durchströmte ihn. Er hatte die Rücken­lehne in eine bequeme Position gebracht und war nicht mehr beunruhigt – im Gegenteil. Seine Chance, in dieser illustren Gruppe zu reisen, mit der Möglichkeit, einen wichtigen Wunsch zu nennen, erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Beeilen brauchte er sich nicht; der Steward hatte ihm beliebig viel Zeit gegeben. Der Blick aus dem Fenster verlor sich in strukturlosem Grau. Alle Mitreisenden schliefen. Nichts bewegte sich. Vollkommene Ruhe.

Die Zeit fließt in die Ewigkeit.

Und plötzlich hatte er es! Josef Kalberla drückte den Knopf. Er hatte seinen Wunsch gefunden; die richtige Frage.

Der Vorhang wurde zur Seite geschoben und in wenigen Schritten war der Steward bei ihm.

„Welchen Wunsch können wir Ihnen erfüllen?“ Diesmal setzte er sich nicht auf den leeren Platz, sondern blieb stehen und stützte sich mit erwartungsvollem Blick auf den Vordersitz.

„Ich wünsche mir die Sprache der Erkenntnis“, sagte Kalb­erla. „Die richtigen Worte, um das, was richtig und bewiesen ist, so darzustellen, dass andere den Sinn dahinter verste­hen. Die Musik in der Mathematik, die Poesie in der Physik. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.“

Kaum hatte Kalberla seinen Wunsch geäußert, war alles verschwunden. Der Steward, die Mitreisenden, das Fenster mit dem strukturlosen Grau dahinter – alles weg. Josef Kalberla blickte in ein helles Licht und sah, wie sich ein fremder Mann in weißer Kleidung über ihn beugte. Andere Menschen, Männer und Frauen, auch sie in Weiß, standen neben ihm.

„Ich glaube, er ist aufgewacht“, sagte der Mann.

„Herr Dr. Kalberla, können Sie mich verstehen?“

Kalberla nickte.

„Wissen Sie, wo Sie sind?“

Kalberla schüttelte den Kopf.

„Sie sind in der Intensivstation I2 der Universitätsklinik Großhadern. Sie hatten einen anaphylaktischen Schock, vermutlich aufgrund einer Eiweißunverträglichkeit. Ihr Körp­er hat extrem heftig reagiert. Zum Glück war Ihr Kollege im Nebenzimmer und hat gehört, wie Ihr Kopf auf die Tischplatte schlug. Er hat sofort den Notarzt gerufen, der Sie ambulant versorgen konnte und mit dem Krankenwagen hierher begleitet hat. Unser Team hat um Ihr Leben gekämpft. Sie lagen 36 Stunden im Koma. Willkommen zurück!“

Kalberla musste im Institut gewesen sein, als es passierte. Wie schwer war seine Verletzung? Wann könnte er zu seinen Studenten zurück?

„Danken Sie Gott für Ihre Jugend und dafür, dass er Ihnen eine derart gute Konstitution mitgegeben hat! Und seien Sie stolz auf sich – Ihr Körper ist der eines Athleten. Sie werden in wenigen Tagen wieder der Alte sein. Laufen Sie Marathon?“ Kalberla lächelte. Er würde nicht lange bleiben müssen. Er schloss noch einmal die Augen. Die Bilder aus seinem Traum verblassten und die letzten Fragen verhallten. Sein Wunsch aber war immer noch gegenwärtig und erfüllte ihn mit einer starken Kraft. Er würde sie bei der Suche nach einer Antwort brauchen.