Klaus

„Wer mag noch Würstln?“

Bevor eine Antwort kam, streckte jemand den Arm zum Teller und schickte ihn auf die Runde. Eigentlich hatte kaum jemand richtig Hunger, aber das Bier allein wäre den meisten zu fad gewesen. So leerte sich der Teller schnell und fand seinen Weg zurück zu Ben, der den Grillmeister gab.

15 Jugendliche saßen auf Bierkästen, Decken und Cam­ping­­stühlen um das kleine Lagerfeuer – zwei Mädchen und sonst nur Jungs gaben einen repräsentativen Querschnitt ihres Jahrgangs im Berufskurs Industrietechnologie, dessen Halbzeit sie heute feierten. Sie lästerten über unfähige Dozenten und langweilige Vorle­sungen und amüsierten sich über die Prüfung, die sie dank Ben alle locker bestanden hatten. Er hatte zum Glück heraus­gefunden, dass in den Vorjahren fast jedes Mal dieselben Multiple-Choice-Fragen drangekommen waren, und so war es auch diesmal gewesen. Musik wurde von irgendeinem Handy auf einen Bose-Soundlink gestreamt und nahm dem Schweigen der Mundfaulen die Peinlichkeit. Stressfreies Chillen war angesagt. Die Frisbeescheibe war mittlerweile umfunktioniert worden und diente einer halbvollen Bier­flasche als Untersetzer.

Wir feiern unser erstes Jahr mit Würstln, Bier und so.

Willst du dazukommen?

Bens E-Mail mit der Wegbeschreibung steckte noch als Papierknäuel in der Hosentasche. Klaus hatte sofort zugesagt, auch wenn er außer seinem alten Schulfreund niemand kennen würde. Gute Gesellschaft, Ablenkung und andere Ideen – das brauchte er gerade. Er hatte einige Wochen zuvor seinen Bachelor in Elektrotechnik abgeschlossen und war daraufhin in einem Loch gelandet. Wie sollte es weitergehen? Er hatte ganz ordentliche Noten bekommen und sein Professor hatte ihm geraten, weiterzu­machen, die Gelegenheit zu einer weiterführenden Master­arbeit würde sich ganz gewiss ergeben. Aber wollte er das auch? In den ersten Semestern war er in den Vorlesungen einer Mischung aus schwer verdaulichen mathematischen Grundlagen und oberflächlichen Abhandlungen von Phäno­menen begegnet. Kaum ein Professor hatte die tief in ihm sitzenden Fragen nach der Ursache der Dinge berührt. Würde das noch kommen? Einmal hatte er eine Philosophiev­orlesung besucht. Die dort behandelten Fragen hatten ihn fasziniert, und er hatte sogar darüber nachgedacht, umzusteigen. Doch was sollte er mit Philosophie im richtigen Leben anfangen? Wie lange würde er es sich leisten können, nur seinen Interessen zu folgen, ohne den Blick auf eine berufliche Anwendung? Aber wenn er bei Elek­tro­technik bleiben würde, würde er je eine Antwort auf die Fragen bekommen, die ihn wirklich interessierten? Oder sollte er etwas ganz anderes versuchen, gewissermaßen einen Gegenentwurf zur Elektrotechnik, den Vorlesungen mit kaum fünf Prozent Mädchen im Saal, zu den Kommilitonen in Jeans und Kapuzenjacke, zu den Büchern mit Zahlen, Tabellen und Formeln? Wochenlang hatte Klaus gegrübelt, Optionen durchdacht und keine passende gefunden. Dann hatte er sich entschieden: Er brauchte eine Auszeit und würde aussteigen, zumindest auf Zeit.

Übermorgen war sein erster Tag als Freiwilliger im Evangelischen Alten- und Pflegeheim der Inneren Mission in Planegg, wo er das Team bei der Betreuung unterstützen würde – er würde mit Bewohnern kleinere Ausflüge unter­nehmen, vielleicht Spiele spielen, das Essen verteilen und andere einfache Aufgaben verrichten. Drei Monate lang, die gesamten Semesterferien. Klaus wollte die Elektrotechnik für eine Weile vergessen und diese andere Welt auf sich wirken lassen, und nach den drei Monaten würde er sich entscheiden. Somit war diese Party auch für ihn eine Zäsur, eine Art Abschiedsfeier.

Inzwischen war es ruhiger geworden. Die restlichen Würstln und Steaks fanden keine Abnehmer mehr. Ben schlenderte zu Klaus, der sich einen Platz am Rand der Gruppe gesucht hatte und schon die ganze Zeit ins Feuer schaute.

„Wie lange wollen wir noch bleiben?“, fragte Ben.

„Soll man nicht gehen, wenn es am schönsten ist?“

„Stimmt wohl. Dann lass uns diesen Moment nicht ver­passen. Komm, wir nehmen uns ein paar Flaschen mit und ziehen los. Du hast doch Schlafsack und Isomatte dabei?“

Natürlich – schließlich hatte Ben schon öfter von dem kleinen See in der Nähe des Grillplatzes gesprochen und der Idee, dort unter freiem Himmel die Schlafsäcke auszurollen und mit nichts über sich als dem Licht der Millionen Sterne die Nacht in der Natur zu verbringen. Sie holten die Rucksäcke, ließen einige Biere darin verschwinden und verschwanden dann selbst unauffällig. Nach wenigen Minuten verloren sich die letzten Gesprächsfetzen der Feiernden in der Dunkelheit, dann summten nur noch die Zikaden. Sie kamen durch ein kurzes Stück lichten Nadelwalds. Als Klaus jetzt zurücksah, war alles vollkommen schwarz. Kein bisschen Licht von der viel befahrenen Straße dahinter war zu sehen. Die Bäume wuchsen im Abstand von vielleicht fünf, sechs Metern und waren selbst kaum einen halben Meter dick. Da war eigentlich genug Luft, um Licht hindurchzulassen. Doch offensichtlich war der Waldstreifen groß genug, um jede Sichtverbindung zur Straße zu kappen. Wenn die Stämme schmaler wären, vielleicht nur zehn Zentimeter dick, dann wäre der Wald noch viel luftiger, und dennoch könnte es stockdunkel sein, sinnierte Klaus. Der Wald müsste nur tief genug sein, dann wäre eine direkte Sicht­verbindung zur Straße unmöglich. So war es gut, sie waren ungestört.

Auf einer Wiese zirpten die Grillen als wären sie betrunken. Schwaden warmer Luft lagen zwischen den Büschen. Gottes Lächeln erreichte die Welt und umfasste die Seelen der Suchenden. Eine sanfte Brise ließ nahes Schilf rascheln und wies den Weg von Ben und Klaus in der betörend lauen Sommernacht. Unweit des Sees fanden sie eine ebene Stelle für die Isomatten und Schlafsäcke.

„Ein geiler Platz“, sagte Ben.

Klaus nickte.

Ein letztes Bier, noch einmal „Cheers“, dann waren beide endlich müde genug und sprachen auch nicht mehr. Ben war eingeschlafen. Klaus drehte sich auf den Rücken und schaute in den unendlichen Sternenhimmel über sich. Hier waren sie weit genug außerhalb der Stadt und hatten keine störenden Lichter. Die Nacht war mondlos und bot einen grandiosen Blick auf die Sterne. Ein Satellit zog langsam seine Bahn, zu gleichmäßig und zu klein für ein Flugzeug. Klaus erkannte das breite Band der Milchstraße und versuchte sich zu orientieren. Wo war noch gleich der Andromedanebel; die nächste Galaxie? Die müsste man doch sehen können. Und die anderen, unendlich vielen Galaxien weiter draußen, sah man die auch, vielleicht zumindest als Punkte? Warum gab es eigentlich nicht überall helle Punkte? Ebenso, wie kein Licht von der Straße zu ihnen drang, weil Bäume dazwischenstanden, dürfte es keine Dunkelheit am Himmel geben, wenn sich nur genügend viele Sterne in Blickrichtung befanden. Sollten unendlich viele nicht allemal genug sein? Warum also war der Himmel dunkel?

Ein geheimnisvoller Sog aus der Tiefe des Alls ergriff Klaus und ließ ihn vor der unermesslichen Weite erschauern, die ihn erfasste und schier verschlingen wollte. Die Sterne verloren ihren Halt und stürzten herab. Klaus schloss die Augen und spürte, wie ihn das mystisch Unbekannte ergriff und mit sich riss, zu einer Reise in die rätselhaften Tiefen des Kosmos, wo er in unendlicher Ferne die Antworten auf seine Fragen finden würde. Dann schlief auch er ein.